Theodor W. Adorno: „Gesetz des Tauschs“ und Vergessen der Schuld des Nationalsozialismus
„Die Bürgerliche Gesellschaft steht universal unterm Gesetz des Tauschs. Des Gleich von Rechnungen, die aufgehen und bei denen eigentlich nichts zurückbleibt. Tausch ist dem eigenen Wesen nach etwas Zeitloses. So wie Ratio selber, wie die Operationen der Mathematik, ihrer reinen Form nach das Moment von Zeit aus sich ausscheiden. So verschwindet denn auch die konkrete Zeit aus der industriellen Produktion. Diese verläuft immer mehr in identischen und stoßweisen, potentiell gleichzeitigen Zyklen und bedarf kaum mehr der aufgespeicherten Erfahrungen. […].Das sagt aber nicht weniger, als daß Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft selber als eine Art irrationaler Rest liquidiert wird.
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Art: Zitat aus Sachbuch |
Thema: Bonmot |
Quelle: „Aufarbeitung der Vergangenheit“ (Vortrag von 1960) |
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Zum Autor: Theodor W. Adorno war ein bedeutender deutscher Philosoph, Soziologe und Musikwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Er war ein führendes Mitglied der Frankfurter Schule und entwickelte zusammen mit anderen Theoretikern der Kritischen Theorie tiefgehende Analysen zur Kultur, Gesellschaft und ihrer Entwicklung. Adorno war bekannt für seine scharfe Kritik an der Rationalisierung der modernen Welt, der ihr folgenden Entfremdung des Menschen. In seinem Werk „Aufarbeitung der Vergangenheit“ untersucht Adorno sozio-psychologische Prozesse, vor allem in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die das kollektive Gedächtnis beeinflussen und das Vergessen fördern.
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Interpretation: In diesem Zitat beschreibt Adorno, wie die bürgerliche Gesellschaft zunehmend durch ökonomische Prinzipien als angebliche Rationalität geprägt wird. Der Tausch, als eine zeitlose Form, wird als eine fundamentale Struktur verstanden, die die Zeit aus der industriellen Produktion ausschließt. Dadurch verliere die konkrete Zeit ihre Bedeutung und werde durch Zyklen – gemeint sind hier sicherlich auch Konjunkturzyklen – ersetzt. Adorno kritisiert, dass dies zu einem Verlust von Erinnerungen und Erfahrungen führe, da die individuelle und kollektive Geschichte in dieser rationalisierten Welt keine Rolle mehr spiele.
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Im Kontext der Zeit: Adornos Kritik an der Ökonomisierung, Rationalisierung und Entfremdung der Gesellschaft ist vor dem Hintergrund der zunehmenden Industrialisierung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. In einer Zeit der Fortschrittsgläubigkeit und insgesamt unkritischen Haltung der meisten Menschen bezüglich der Auswirkungen und Folgen des kapitalistischen Systems. Bei Adorno wird eine tiefe Sorge um die Auswirkungen dieser Entwicklungen deutlich, auf das menschliche Bewusstsein und die kollektive Erinnerung. Das Vergessen des Nationalsozialismus und die mangelnde Auseinandersetzung mit der Geschichte sind für ihn ein Symptom für eine Gesellschaft, die sich von ihrer eigenen Vergangenheit abwendet, um sich ökonomischen Anforderungen der Gegenwart anzupassen.
Auch für die heutige Zeit ist das Zitat insofern relevant, als dass etwa die rechtsextreme Partei AfD zugleich mit neoliberalen Forderungen Politik macht und explizit das Vergessen der Historischen Schuld Deutschlands fordert.
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